Vernunft ist wichtiger als Autorität

Niemand will Besserwisser, Moralisten, Diktatoren und Gutmenschen


Niemand will von oben herab bevormundet und abwertend behandelt werden. Diktatorisches Befehlen und Anordnen hat im militärischen Rahmen unter akuten Kriegsbedingungen eine gewisse Berechtigung, nicht aber in Friedenszeiten, in denen sich das eigene Leben in Ruhe und Gelassenheit frei von äußerem Druck und Bedrohungen selbstbestimmt gestalten lässt.

In Demokratien gehen die Menschen mit Selbstverständlichkeit davon aus, dass stets eine breite Palette an Wahlmöglichkeiten zu Verfügung steht, um mit konkreten Herausforderungen bestmöglich umgehen zu können. Stets gibt es eine beste Lösung, die man daran erkennen kann, dass sie vernünftig ist, indem sie das Allgemeinwohl, die Lebensqualität aller Menschen in optimaler Weise unterstützt. Es gibt immer unendlich viele schlechtere, also unvernünftige, Alternativen dazu. Wer allen Ernstes meint und behauptet, es gäbe nur einen einzigen Weg und keine Alternativen, ist vermutlich entweder ein Diktator oder ein Dummkopf oder jemand, der von außen zu einer solchen Aussage gezwungen wird. Die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher (1925-2013) war berühmt-berüchtigt für ihre häufige Feststellung „there is no alternative“. Sie genoss das Prädikat „eiserne Lady“, das berechenbare Starrheit und Sturheit als besondere Charakterstärke herausstellt gegenüber lösungsorientierter Flexibilität.

Das Allgemeinwohl fördernde Vorgehensweisen lassen sich am besten in Gesprächsrunden erarbeiten, in denen alle Positionen ernst genommen und erörtert werden, die sich in der Bevölkerung erkennen lassen. Ratsversammlungen und Parlamente wurden erfunden, um genau dieses zu leisten: optimale Lösungen zu entwickeln. In Demokratien sind solche Gremien die entscheidenden Instanzen. Dort kommt der Exekutive, also den Angehörigen der Regierung, keinerlei eigenes Entscheidungsrecht zu, sondern einzig und allein die Pflicht, für die sorgfältige Ausführung dessen zu sorgen, was das Parlament beschlossen hat. Staaten, in denen Präsidenten oder Minister Entscheidungen treffen und das Parlament entmachten, indem sie sich bei ihrer Meinungsbildung nicht von diesem beratend unterstützen lassen, sind nicht „demokratisch“, sondern despotisch.

Die Demokratie wurde als Regierungsform erfunden, weil Alleinherrscher in der Regel an der Aufgabe scheitern, stets alle wichtigen Gesichtspunkte bei ihrer Entscheidungsfindung angemessen zu berücksichtigen. Um für eine solche Berücksichtigung zu sorgen, gibt es in Demokratien Regeln, an die sich alle Abgeordneten zu halten haben. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland lautet dazu die wichtigste Regel: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ (Artikel 38 Abs. 1 Satz 2). Das freie Mandat dient der Sicherstellung der Grundrechte der Parlamentarier. Mithin ist sorgfältig darauf zu achten, dass die Parlamentarier gemäß ihren Freiheitsrechten handeln, also ihre Entscheidungsfreiheit nicht durch Fraktionszwänge, Parteidisziplin, Kooperationen mit Lobbyisten oder Verpflichtungen sonstiger Art einengen lassen.

Derartige Regeln dienen dazu, die Bevölkerung von politischen Repräsentanten zu befreien, die über Sachverstand und Vernunft hinausgehende persönliche Qualitäten „moralischer“ Art benötigen und nach außen hin vertreten. Die Bürger wollen keine Repräsentanten, die ihnen vorschreiben, wie sie ihr Leben zu führen haben – nach welchen Wertvorstellungen, mit welchen Vorlieben, Prioritäten, Vorgehensweisen und Zielen. Vor allem wollen sie keine, die sich einer doppelten Moral bedienen: An Regeln, die für alle gelten, müssen sie sich auch selber halten.

Etliche Repräsentanten, Abgeordnete sowie Regierungsmitglieder, legen großen Wert auf das Ansehen, das Image, die Popularität und die Anerkennungswerte, die sie seitens der Bevölkerung in Wahlen und demoskopischen Befragungen erhalten. Diese Ausrichtung erweist sich als gefährlich, ja schädlich für die Bürger, da sie zu populistischem Handeln verführt: Um Rückhalt in der Bevölkerung zu erhalten, ist die Versuchung groß, dem zu folgen und nach dem Munde zu reden, was einzelne einflussreiche Bevölkerungsgruppen tagesaktuell am liebsten hören möchten. Eine derartige marktorientierte Ausrichtung ist üblicherweise weit entfernt vom Allgemeinwohl. Sie kann von der Wirkung her der Diktatur der öffentlichen Meinung entsprechen bzw. dem sogenannten „imperativen Mandat“.

Zusätzlich ergibt sich aus dem Streben nach öffentlicher Anerkennung die Tendenz, sich als in jeder Hinsicht tadellos präsentieren zu wollen. Demzufolge können Politiker in besonderer Weise dazu neigen, Fehler vor allem bei anderen zu sehen und zu verfolgen, während sie die eigenen eher verkennen und vertuschen. Das zeigten die Brüder Grimm eindrucksvoll in ihren Märchengeschichten am Beispiel von Königen, etwa in „Dornröschen“ oder „Die kluge Bauerntochter“. Die Brüder Grimm waren Juristen; Jacob und Wilhelm halfen mit, die Menschenrechte in Deutschland zu formulieren.

Persönlichkeitskult war und ist stets verfehlt. Nötig sind Leute mit einem auf nachhaltige Lösungen ausgerichteten Verantwortungsbewusstsein, die qualitativ hochwertige Arbeit leisten, nicht solche mit Starallüren, Geltungsdrang und entschlossenem Willen zur Machtausübung über andere.


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