2.1.2 Die psychologische Sichtweise
2.1.2. Die psychologische Sichtweise: Menschlichkeit als Basis der Grundrechte
In vor-juristischer Form beruhen die Menschenrechte auf den menschlichen Grundbedürfnissen: Menschen haben ein Bedürfnis nach menschenwürdigen Lebensbedingungen. Im mitmenschlichen Zusammenleben gehört dazu in erster Linie, von anderen Menschen als Mensch geachtet zu werden und sich als Mensch so verhalten zu können und zu dürfen, wie es der eigenen Entwicklung, insbesondere auch dem eigenen Lebensalter und den jeweils gegebenen Lebensumständen, entspricht: Ein Kind möchte in seinen kindlichen Eigenarten, Stärken und Schwächen akzeptiert und respektiert werden. Pubertierende möchten mit ihren Entwicklungs- und Orientierungsschwierigkeiten akzeptiert und respektiert werden, mit ihrem oft als „unreif“ angesehenen Herumprobieren und Grenzen-Austesten. Sie haben, wie Kinder, das Recht, sich „unreif“ zu verhalten, denn sie sind ja noch nicht „reif“. Wer einen geliebten Menschen verloren hat, möchte mit der eigenen Trauer, dem Kummer, dem Schmerz akzeptiert und respektiert werden. Wer krank, behindert, verzweifelt, ratlos, schwach oder alt ist - jeder Mensch möchte so, wie er gerade ist, wie er sich fühlt, mit dem, was er hat und was ihm fehlt, von allen anderen Menschen akzeptiert und respektiert, also ernst genommen werden
Das erfordert Vorsicht und Rücksicht im Umgang miteinander, dass man einander nicht zu nahe kommt und einander bedrängt. Es erfordert Zurückhaltung und dass man sich gegenseitig Freiraum lässt, so zu sein und sich so zu verhalten, wie es den eigenen Bedürfnissen entspricht. Es erfordert, dass man einander Grenzen setzt mit klaren Zeichen, möglichst ohne einander zu verletzen. Es erfordert, dass man einander die eigenen Wünsche und Bedürfnisse mitteilt. Es erfordert, dass jeder so gut wie möglich für sich selber sorgt.
In vor-juristischer Form betonen die Menschenrechte, dass die menschlichen Bedürfnisse und deren Befriedigung Berechtigung haben: Sie sollten akzeptiert und respektiert werden. Das schließt freilich ein, dass Bedürfnisbefriedigung in disziplinierter Form erfolgen sollte, d.h. nicht ungezügelt und rücksichtslos.
Wenn menschliche Bedürfnisse nicht akzeptiert und respektiert werden, entstehen Schäden. Diese können größer oder geringer ausfallen, entsprechend den jeweiligen Gegebenheiten und Umständen. Dabei kann es zur Tötung kommen, etwa durch Mord oder Suizid. Es können körperliche und seelische Verletzungen im Zuge von Streitigkeiten auftreten. Einschränkungen der Bedürfnisbefriedigung können zu gesundheitlichen Funktionsstörungen (Unwohlsein, Krankheiten, Tod) führen. Hier gibt es allgemeine naturgesetzliche Wirkungszusammenhänge, die sich jedoch im Einzelfall nicht unbedingt eindeutig nachweisen lassen.
Um Schäden zu vermeiden, ist Vorsicht und Rücksichtnahme im Umgang miteinander erforderlich – Achtsamkeit im Hinblick auf das, was man tut und was dieses in anderen auslösen kann. Dazu sind Sachverstand und Übung (Training) erforderlich, Mitgefühl und Feinfühligkeit, vor allem auch kompetenter Umgang mit auftretenden Konflikten. Da auch bestmögliches Bemühen immer wieder zu Fehlleistungen führen kann, denn Irren ist menschlich, kommt es darauf an, beständig aus den eigenen Erfahrungen zu lernen und verständnisvoll miteinander umzugehen, Toleranz zu üben. Strenge und Härte im Umgang miteinander sowie extrem hohe Ansprüche und Anforderungen (Fundamentalismus, Dogmatismus, Rechts- und Linksextremismus) führen hier leicht eher zu größeren Schäden als zu deren Vermeidung. Deshalb ist anstelle von Perfektionismus vorrangig etwas anderes geboten, nämlich Adäquanz, d.h. das Streben nach dem, was in der jeweiligen Situation angemessen, passend, nützlich, konstruktiv, hilfreich, machbar ist. Das Ziel besteht in optimaler Kooperation und Ausgewogenheit, in der Orientierung an der goldenen Mitte, an Harmonie, Zufriedenheit und Glück im größtmöglichen Umfang. Was Ziel ist, ist vielfach zugleich auch das bestmögliche Mittel.
Leben, Freiheit und das Streben nach Glück („Life, Liberty and the Pursuit of Happiness”) sind Kernbegriffe der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Menschenrechtserklärungen. Selbstverständlich ist, dass es hier um etwas geht, das allen Menschen gleichberechtigt zusteht. Die Formulierung der Menschenrechte soll dazu beitragen, dass immer mehr Menschen der Befriedigung ihrer Bedürfnisse näher kommen können. Mit den Gegebenheiten des Lebens und mit Freiheit so umgehen zu können, dass man sich in umfassender Weise glücklich fühlt, dürfte das Ziel aller Menschen sein.
Bemerkenswert ist, dass Diktaturen besonders häufig das angebliche Wohl aller Menschen (besonders derjenigen des eigenen Landes) auf ihre Fahnen geschrieben haben. Sie tendieren dazu, ihre Vorstellung von diesem Wohl – Hitler verwendete hier gern das Wort „Heil“ – mit besonderer Gradlinigkeit und Konsequenz zu verfolgen, auch mit brutalster Grausamkeit gegenüber allen, die dieser Vorstellung nicht entsprechen. Zu erinnern ist hier u.a. an die Kulturrevolution unter Mao Tse-Tung. Dabei spielt nicht selten auch religiöser Eifer eine Rolle, wie etwa bei den Kreuzzügen, die angeblich mit göttlichem Auftrag erfolgt seien. Vergleichbares zeigte sich in der Auseinandersetzung zwischen der US-Regierung unter George W. Bush und Saddam Hussein als Vertreter des Islam.
Das Besondere bei den Grund- und Menschenrechten ist, dass sie das Allgemeinwohl (oder das Heil aller) in einer Weise formulieren, die diktatorischen Missbrauch offensichtlich erkennbar werden lässt: Fundamentalistische Orientierungen mit kompromissloser Gradlinigkeit und Konsequenz bei der Durchsetzung von Ansprüchen bzw. Rechtsnormen sind mit den Grund- und Menschenrechten prinzipiell unvereinbar, da diese stets mit deren Missachtung einhergehen. Die Grund- und Menschenrechte sind zwar etwas Fundamentales, aber indem sie gleiche Rechte und Pflichten für alle Menschen sowie juristische Personen, also auch Staaten, definieren, stellen sie den gegenseitigen Respekt als eine Grundbedingung für gelingenden Umgang miteinander in den Vordergrund. Sie beinhalten eine Berechtigung zum Widerstand gegenüber allen Instanzen, von denen ein praktisch unerträglicher und unerfüllbarer Einhaltungs- Erwartungsdruck ausgeübt wird.
Dass das so ist, wird erst auf der Basis einer gründlichen Beschäftigung mit dem verständlich, was es mit den Grund- und Menschenrechten auf sich hat. Fehlt eine hinreichend gründliche Beschäftigung damit, so ergeben sich Missverständnisse, aus denen heraus auf der politischen Ebene immer wieder die Einhaltung oder Nichteinhaltung von Grund- und Menschenrechten mit Sanktionen und Druckmitteln verfolgt wird. Dabei kann dann leicht der Eindruck entstehen, die Menschenrechte ließen sich wie Waffen gegen Gegner einsetzen. Wer so damit umgeht, dokumentiert damit eigenen Informationsmangel. Der ist leider bei Politikern allzu verbreitet.
Die Menschheitsgeschichte ist voller leidvoller menschlicher Erfahrungen, und gerade angesichts solcher Erfahrungen wurden die Menschenrechte in juristischen Formen formuliert, um derartiges Leid zukünftig möglichst auszuschließen. So wurden die Grundrechte im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert, um Grundrechtsverletzungen entgegenzuwirken, die während der Hitlerdiktatur in einem zuvor wohl noch nie erreichten Maße zur Selbstverständlichkeit geworden waren.