2.1.3 Die spirituell-visionäre Sichtweise

2.1.3. Die spirituell-visionäre Sichtweise von Leonardo Boff: Eine große Familie

Um die gegenwärtigen Konzepte von menschlichen Lebensmöglichkeiten zu erweitern im Blick auf zukünftige Entwicklungen, können Visionen hilfreich sein. Auf der Basis der Menschenrechte und der Lehre Jesu entwickelte Leonardo Boff eine Zukunftsvision. Er lehrte Ethik an der Universität Rio de Janeiro. Er ist einer der Hauptvertreter der katholischen Befreiungstheologie und wurde seit 1985 wiederholt vom Vatikan mit Schweigepflichten belegt. Das ZEITmagazin veröffentlichte 1998 folgenden Text von ihm:

„Eine der vielleicht bedeutendsten Veränderungen im 21. Jahrhundert wird die Rückkehr der Spiritualität sein. Die Menschheit wird dem Mysterium der Welt mit mehr Ehrfurcht begegnen und für ihr eigenes Schicksal und das der Erde mehr Verantwortung übernehmen.

Gerade im Zuge der Globalisierung verfestigt sich das Bewusstsein: Wir haben nur diesen einen Planeten. Wir müssen mit ihm genauso pfleglich umgehen wie mit unserem Haus oder unserem Körper. Und wir sind alle gleichermaßen bedroht, sei es durch das Arsenal der existierenden Nuklear- und chemischen Waffen, sei es durch die systematische Zerstörung der Umwelt. Als Menschen sind wir Söhne und Töchter der Erde, mehr noch, wir selbst sind die Erde. Und wir begreifen, dass allein ihr Zustand der Bezugsrahmen für alles andere ist – für die Politik, die Industrie und die Erziehung ebenso wie für die internationalen Beziehungen. Deshalb wird die Gesellschaft des nächsten Jahrhunderts mit der Natur ein neues, von Respekt und Verehrung geprägtes Bündnis schließen. Und bei ihrem Konsum ein größeres Verantwortungsbewusstsein demonstrieren.

Die Menschen, bislang in unterschiedliche Kulturen zersplittert, getrennt durch Sprachen und Nationalstaaten, kehren nach langem Exil in das gemeinsame Haus zurück. Wir werden uns als eine einzige Familie begreifen, die Familie der Menschheit. Dieses kollektive Bewusstsein wird die Gründung internationaler Institutionen erzwingen, die sich für die Sicherung einer gemeinsamen Zukunft einsetzen. Eine neue Solidarität wird weltweit entstehen, mit mehr sozialer Gerechtigkeit und weniger Gewalt - abgesichert durch einen weltumspannenden Gesellschaftsvertrag zwischen den Völkern, basierend auf drei, von allen anerkannten Grundwerten:
1. Schutz des Planeten Erde
2. Schutz des Spezies Mensch und ihrer Entwicklung
3. Frieden zwischen den Völkern für alle Zeit.

Die Technologie hat ein neues Zeitalter eingeläutet. Die Gesellschaft wird durch und durch von Wissen, Information und Automatisierung geprägt sein und das Wesen der technologischen Prozesse sozial integriert haben. Roboter und Computer werden den Menschen von dem Prinzip befreien, arbeiten zu müssen, um leben zu können. Mit den Automaten hält das Freiheitsprinzip Einzug, das dem Menschen ermöglicht, sich in einer Form auszudrücken, wie es nur er, als ein freies, kreatives Subjekt, vermag.
Weil aber Millionen Beschäftigte durch diese Neuerungen endgültig vom Produktionsprozess ausgeschlossen werden, stellt sich die Frage: Wie kann man sie sinnvoll beschäftigen? Wie den Übergang von der Vollbeschäftigung im Arbeitsverhältnis zur privaten Vollbeschäftigung bewältigen?

Die Arbeiter müssen zu produktiven Tätigkeiten befähigt werden, die nicht allein die Bedürfnisse der Märkte befriedigen sollen. Die Ministerien für Kultur und Sport werden in den Regierungen der Zukunft also zu den wichtigsten zählen, weil sie für die Massen, die vom Markt bezahlter Arbeit ausgeschlossen sind, alternative Beschäftigungen schaffen müssen.

Die Städte werden grundlegend ihr Gesicht verändern. Die neue Beziehung zur Natur, die Wiederentdeckung ihrer Reize, werden in hohem Maße dazu beitragen, dass Millionen von Menschen das Leben in der Großstadt gegen das auf dem Land oder in kleineren, sinnvoll in die Umwelt integrierten, Städten eintauschen. Man wird dafür sorgen, dass sich Flüsse und Landschaften regenerieren und die Luft wieder rein wird.

Die Begegnung zwischen den Kulturen wird die vielfältigen Formen unseres Menschseins allen ins Bewusstsein heben. Die Werte jedes einzelnen, seine Eigenarten, Vorlieben und Lebensphilosophien werden als Reichtum betrachtet und nicht als Bedrohung für die Einheit der Menschen. Dank der umfassenden Erziehung auf allen Ebenen wird der Mensch mehr Sensibilität, Anteilnahme, Rücksicht und Kooperationsbereitschaft zeigen.
Die so errungene Freiheit wird den Status der Familie neu definieren. Sie ist nicht mehr in erster Linie auf die Fortpflanzung ausgerichtet. Sie wird der Ort sein, wo Liebe und Intimität Beständigkeit erreichen und zu einem Entwurf für ein Leben zu zweit werden können. Die Paare gestalten ihre Beziehung zunehmend demokratisch, und zwar weniger gesellschaftlichen Anforderungen gehorchend, sondern um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen.

Genauso wie die neue Spiritualität keiner doktrinären, moralischen und rituellen Macht bedürfen wird. Mit dem Geist erkennt der Mensch, in welche Richtung die Zukunft weist, und er verneigt sich in Ehrfurcht vor dem großen Mysterium, das alles in Gang gesetzt hat. Kühn gibt er ihm tausend Namen, oder er sagt einfach Gott. Die Spiritualität ist auf eine lebendige Begegnung mit diesem Gott ausgerichtet, auf religiöse Macht verzichtet sie. Sie wird dem Leben Leichtigkeit schenken und dazu führen, dass die Menschen sich nicht als in ein Jammertal verdammt begreifen, sondern als Töchter und Söhne der Freude am gemeinsamen Leben in dieser Welt.“ (Eine große Familie. ZEITmagazin Nr. 1, 30.12.1998, S. 14)

Leonardo Boff können in einigen nebensächlichen Einzelheiten Fehleinschätzungen unterlaufen sein. Eine weitgehend damit übereinstimmende zukunftsprognostische Argumentation hatte 1959 der Naturwissenschaftler und Theologe Pierre Teilhard de Chardin SJ (1881-1955) in seinem Buch „Der Mensch im Kosmos“ vorgelegt. Er arbeitete im Bereich der Evolutionsforschung und Biologie. Sicherlich kennt Boff diese Schrift. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, darauf ausführlich einzugehen.