3. Wissenschaftliche Grundlagen

„Einzig Erfahrung ist evident.
Erfahrung ist die einzige Evidenz.
Psychologie ist der Logos der Erfahrung.
Psychologie ist die Struktur der Evidenz, und
deshalb ist Psychologie die Wissenschaft der Wissenschaften.“
Ronald D. Laing
(Phänomenologie der Erfahrung. Edition Suhrkamp 1969, S. 12)

Man unterscheidet das spontane Erfahren, Wahrnehmen, Beurteilen und Handeln von Menschen in ihrem Alltagsleben vom wissenschaftlichen Wahrnehmen, Beurteilen und Handeln.

Spontanes Alltagsverhalten erfolgt aufgrund unmittelbarer subjektiver Eindrücke und Empfindungen, nach Lust und Laune. Es kann chaotisch, unsystematisch, unbedacht, unzweckmäßig, rücksichtslos, destruktiv etc. sein. Um die damit oft einhergehenden unerwünschten Ergebnisse (Folgen) zu vermeiden bzw. um mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit das erreichen und bewirken zu können, was man beabsichtigt und anstrebt, wurden Maßnahmen zur Korrektur der Spontaneität entwickelt. Diese dienen dazu, das menschliche Verhalten sinnvoll auszurichten. Zu diesen Maßnahmen gehören Aktivitäten der Beobachtung und zweckmäßigen Steuerung von Verhalten, Gefühlen und Gedanken. Dies erfolgt z.B. in Einrichtungen der Erziehung und Bildung sowie über juristische und psychotherapeutische Einflussnahme.

Wissenschaftliches Wahrnehmen, Beurteilen und Handeln beruht auf einer intensiven Übung und Schulung, die optimale Handlungserfolge anstrebt. Solche Erfolge setzen die Aneignung einschlägiger Kenntnisse und die Beherrschung bewährter Vorgehensweisen (Methoden, Techniken) voraus. Wissenschaftlichkeit ergibt sich aus der bewussten Berücksichtigung von Grundlagen und Regeln, die eine verlässliche Handlungsorientierung in der Lebenswelt ermöglichen. Unentbehrlich hierfür sind klares Denken, systematisches Vorgehen, die sorgfältige Ausschaltung bekannter Fehlerquellen und innere Aufgeschlossenheit gegenüber allem, was sich zeigen und ergeben kann. Zu den Grundlagen gehören vor allem Kenntnisse und Erfahrungen, die sich auf die Lebenswelt und deren Beschaffenheit (Eigenart) sowie auf deren Entstehung und Entwicklung (Geschichte, Evolution) beziehen. Aus bislang begangenen Fehlern gilt es zu lernen.

In den einzelnen Fachdisziplinen entwickelten sich spezifische und damit auch unterschiedliche Grundlagen und Vorgehensweisen. Deshalb kann in einer Disziplin etwas als „wissenschaftlich anerkannt“ gelten, was in einer anderen Disziplin dieses Prädikat keineswegs erhielte. Fachübergreifend gilt als Minimalanforderung, dass die Darstellungen im Rahmen der eigenen Fachgemeinschaft „nachvollziehbar“ sein sollen, wozu insbesondere eine korrekte Quellenangabe beim Zitatieren gehört.

Als vor-wissenschaftlich gilt die sog. Schulenbildung innerhalb einer Disziplin: Sie weist darauf hin, dass die Vertreter dieser Disziplin ihren Gegenstandsbereich noch aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, oft geleitet von unterschiedlichen Interessen. Damit verbunden sind unterschiedliche Formen des Umgangs mit Begriffen, Definitionen, inhaltlichen Zusammenhängen sowie mit den Methoden der Datenerhebung und -auswertung. Zuweilen gibt es heftige Auseinandersetzungen untereinander, bis hin zu Tendenzen, den eigenen Standpunkt zu verabsolutieren und andere Standpunkte zu verurteilen. Derartige Auseinandersetzungen lassen offensichtlich noch vorhandene Mängel hinsichtlich der Objektivität des eigenen Vorgehens erkennen: Eine übereinstimmende Herangehensweise und ein gemeinsames Verständnis vom Wesentlichen konnte hier noch nicht entwickelt werden. In diesem vor-wissenschaftlichen Entwicklungsstadium befinden sich zurzeit u.a. noch die Medizin, das Rechtswesen sowie die Wirtschafts- und Finanzlehren.

Derartige Unterschiedlichkeiten bzw. Schulenbildungen ergeben sich einerseits aus der Entstehungsgeschichte (Tradition) der einzelnen Disziplinen, andererseits auch aus deren gesellschaftlicher Relevanz: Die Relevanz geht vielfach (nicht immer!) mit sozialer Wertschätzung und Anerkennung einher. Sie begünstigt die Entstehung von Machtpositionen sowie das Bestreben von deren Inhabern, sich diese zu erhalten. Dieses Bestreben kann einhergehen mit Tendenzen, wissenschaftliche Arbeit zu manipulieren und Erkenntnisse sowie Anwendungen zu unterdrücken, falls diese geeignet sind, bestehende Machtpositionen in Frage zu stellen und in ihrem weiteren Bestand zu gefährden.

Gegenwärtig ist das im Zuge des sog. Neoliberalismus in extremem Umfang der Fall. Hier zeigen sich massive Tendenzen, jegliche Form von Wissenschaftlichkeit, Gründlichkeit, Objektivität, Gewissenhaftigkeit und Korrektheit sowie alle Erkenntnisse, die nicht die Stabilisierung der gegebenen Machtverhältnisse unterstützen, als unglaubwürdig, unseriös, lächerlich bzw. als destruktiv hinzustellen. Hier wird als oberstes Ziel das Haben, Erringen und Verteidigen finanziell-materieller Machtmittel verfolgt. Ein wirksames Instrument dazu ist die Deregulierung, die darin besteht, dass Fairness-Regeln bewusst außer Kraft gesetzt und übertreten werden, um den eigenen vermeintlichen Erfolg zu optimieren – ausschließlich im eigenen Interesse, auch auf Kosten anderer und der Allgemeinheit. Das widerspricht eindeutig Artikel 14 (2) des Grundgesetzes: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Der neoliberale Kapitalismus ist grundgesetzwidrig.

Selbstverständlich zeigt sich die Welt allen Menschen so, wie sie sie sehen. Natürlicherweise kann jeder sie anders sehen als alle anderen, nämlich vollkommen subjektiv, entsprechend den eigenen Interessen. Die Bemühung um Wissenschaftlichkeit bzw. um Objektivität ergibt sich aus dem Bestreben, angesichts der Vielfalt der Gegebenheiten und deren unterschiedlicher menschlicher Wahrnehmbarkeit zu Befunden und Vorgehensweisen zu gelangen, die von allen Menschen übereinstimmend als verlässlich, nützlich, gültig und fruchtbar („wahr“) im Hinblick auf die Bewältigung ihrer persönlichen Lebensaufgaben erfahren werden können. Wissenschaftlichkeit ergibt sich über die Entwicklung und Vereinbarung von Grundlagen (Prämissen, Begriffsbildung, Kontext/Universum, Entstehungsprozesse und Zusammenhänge von Gegebenheiten, Theoriebildung) und Vorgehensweisen (forschungsleitende Interessen, Systematik, Methodologie der Datenerhebung und Datenauswertung) sowie über deren transparente Darstellung im Blick auf Möglichkeiten der Ergebnisüberprüfung, wozu auch Untersuchungswiederholungen gehören.

Die empirisch-experimentelle Psychologie ist neben der Erziehungswissenschaft die jüngste bzw. neueste Fachdisziplin, die in bestimmten eigenen Teilbereichen anspruchsvollen wissenschaftlichen Kriterien gerecht wird. Diese beiden Fachbereiche beruhen weitgehend auf gemeinsamen Wurzeln, so z.B. auf Gesetzmäßigkeiten des Lernens. Hier gelang es im Laufe des 20. Jahrhunderts, besonders differenzierte und umfassende Ansätze wissenschaftlichen Vorgehens zu entwickeln, z.T. auch unter bewusster Berücksichtigung der Ansprüche der sog. „exakten“ Naturwissenschaften Mathematik, Physik und Chemie, Informatik und Kybernetik.

Von Psychologen und Erziehungswissenschaftlern entwickelte Konzepte und Methoden werden aufgrund ihrer exzellenten Qualität und Nützlichkeit zunehmend auch von Angehörigen anderer Fachbereiche, so von Physikern, Medizinern, Juristen, Unternehmensberatern sowie Wirtschafts- und Finanzexperten übernommen. Es spricht einiges dafür, dass die hier entwickelten Ansätze zunehmend das wissenschaftliche Arbeiten in allen Fachdisziplinen prägen – und damit zum Teil tiefgreifend verändern – werden. Denn diese beiden Fachbereiche sehen den Menschen und seine Handlungen ausdrücklich als ihren zentralen Gegenstand: Die Menschen und ihre Handlungen, die menschlichen Wahrnehmungen, Vorgehensweisen, Interpretationen, ihre Bedürfnisse und Leistungen, begründen jegliche Form von Wissenschaftlichkeit.

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Inhaltsverzeichnis Kapitel 3

3. Wissenschaftliche Grundlagen

  • 3. Wissenschaftliche Grundlagen und Fragestellungen
  • 3.1 Naturgesetze, Naturwissenschaft und die Fragestellungen der Psychologie
  • 3.2 Geschichtliche Grundlagen der heutigen naturwissenschaftlichen Psychologie
  • 3.3 Fragestellungen experimentell-naturwissenschaftlicher psychologischer und sozialwissenschaftlicher Forschung
  • 3.3.1 Erkenntnis-Wissenschaft: Grundlagenforschung zum Wohle des Menschen unter Beachtung der natürlichen Gegebenheiten und Erfordernisse
  • 3.3.2 Manipulierender Erkenntnis-Missbrauch und Kriegsführungs-Psychologie
  • 3.3.3 Auschwitz sollte sich nie wiederholen… doch nichts wiederholt sich in identischen Formen