3.3.1 Erkenntnis-Wissenschaft

3.3.1 Erkenntnis-Wissenschaft: Grundlagenforschung zum Wohle des Menschen unter Beachtung der natürlichen Gegebenheiten und Erfordernisse

Seriöse naturwissenschaftliche Arbeit war seit jeher darauf ausgerichtet, der Erkenntnis der Wahrheit zu dienen, d.h. die Gegebenheiten (Wirklichkeit) in möglichst objektiver Weise zu erfassen und zu beschreiben, d.h. so, wie jeder Mensch sie persönlich wahrnehmen und erleben kann, unabhängig von zeitweiligen Bedürfnissen, Interessen, Launen, Stimmungen sowie persönlichen Werthaltungen, Perspektiven, Fähigkeiten, Kenntnissen und sonstigen Eigenheiten. Der Nutzen und Sinn derartiger wissenschaftlicher Arbeit besteht darin, allen Menschen zu einer hilfreichen Orientierung in der Welt und zu zweckmäßigen Entscheidungen und Handlungen zu verhelfen, d.h. möglichst erfolgreich und kompetent zu werden. „Erfolgreich“ bzw. „kompetent“ zu sein, heißt hier, sich so verhalten zu können, dass möglichst genau dasjenige eintritt und erreicht wird, was man ursprünglich beabsichtigt hatte. Erfolgreich bzw. kompetent vorzugehen bedeutet: Aus bislang gemachten Fehlern zu lernen und diese nicht mehr zu wiederholen. Schaffen, was man sich zu schaffen vorgenommen hat. Erreichen, was man erreichen will. Treffsicher werden.

In der Technik, die auf erkannten Gesetzmäßigkeiten der exakten Naturwissenschaften beruht, gelingt Derartiges immer wieder in bewundernswert präziser Weise. Um zu solchen zuverlässigen Ergebnissen zu gelangen, lassen sich Experimente unter klar definierten Bedingungen durchführen, die von anderen Forschern wiederholt werden können, wodurch sich bisherige Befunde bestätigen oder in Frage stellen lassen.

Um klare Erkenntnisse gewinnen zu können, war stets in die Vorstellung sinnvoll, dass die Natur so ist, wie sie ist und sich als solche nicht in unberechenbarer Weise verändert. Wenn man mit der Natur zu tun hat, so hat man vor allem mit Sachen bzw. Sachlichem zu tun, was uns Menschen umgibt - also mit etwas, dem man als menschlicher Betrachter oder Forscher weitgehend objektiv gegenüber steht. Soweit sich naturwissenschaftliche Experimente auf der Erde durchführen ließen, etwa im Bereich der Mechanik, Optik, Chemie und Elektrotechnik, erschien dieser Ansatz als ziemlich unproblematisch. Doch spätestens seit der kopernikanischen Wende ergab sich die Notwendigkeit, die Position des Menschen gegenüber dem, was er mit seinen Sinnesorganen wahrzunehmen vermag, aus einer neuen, veränderten Perspektive heraus einzuordnen: Wenn wir von der Erde aus die Sonne betrachten, so bewegt sich diese um uns auf der Erde herum. Wenn wir jedoch die Abläufe in unserem Planetensystem betrachten, so ergibt sich der Befund, dass sich die Erde um die Sonne herum bewegt: Die Sonne ist der Mittelpunkt unseres Sonnensystems, in dessen Rahmen die Erde kreist, und daneben existieren noch andere Sonnensysteme.

Was uns Menschen, aufgrund unserer Position auf der Erde, übereinstimmend als unzweifelhaft und evident erscheint, wird über die Betrachtung der Erde im Rahmen der Sonnensysteme relativiert, d.h. in einen anderen Zusammenhang gestellt. Indem die Erde als ein Planet in ihrer Umlaufbahn im größeren Gesamtzusammenhang betrachtbar wurde, erweist sie sich nicht als das einzige mögliche Zentrum zur Betrachtung alles anderen. Damit begann der Mensch, sich und seine Wahrnehmungsperspektiven quasi von außen zu betrachten und sich selbst gegenüber eine objektive(re) Position einnehmen zu können. Das gilt nicht nur für einzelne Menschen, sondern auch für Gruppen, Organisationen, Gesellschaften, Systeme, Netzwerke und deren Kontakte und Umgangsformen miteinander. Die Erkenntnisse von Kopernikus wurden u.a. durch Einstein's Relativitätstheorie und Heisenberg's Unschärferelation und Quantentheorie weiter präzisiert.

Noch vor Einstein und Heisenberg begann etwa zu Anfang des 20. Jahrhunderts die experimentell-psychologische Forschung damit, den Menschen als Teil der Natur zu betrachten und seine Eigenarten, Reaktions-, Handlungs-, und Funktionsweisen mit naturwissenschaftlich-experimentellen Mitteln zu untersuchen:

  • Wie funktionieren die menschlichen Sinnesorgane und die Wahrnehmung?
  • Wie treffen Menschen Unterscheidungen?
  • Wie lernen sie?
  • Wie wirken sich Belohnungen und Bestrafungen aus?
  • Was hat es mit Empfindungen und Gefühlen auf sich?
  • Was haben Gefühle und Gedanken miteinander zu tun?
  • Was geschieht im menschlichen Gedächtnis und beim Denken?
  • Was treibt uns an, dieses oder jenes zu tun oder zu lassen?
  • Was hat es mit den menschlichen Wertvorstellungen, dem menschlichen Willen und der Entscheidungsfreiheit auf sich?
  • Wie arbeitet das menschliche Nervensystem und Gehirn?
  • Was unterscheidet den Menschen von anderen Lebewesen?
  • Wie unterscheiden sich Menschen untereinander?
  • Was geschieht im Kontakt zwischen Menschen?
  • Wie gehen sie miteinander um bzw. wie könn(t)en sie miteinander umgehen?
  • Welche Schwierigkeiten könnten im Umgang miteinander auftreten und wie lassen sich diese bestmöglich bewältigen?
  • Wie wirkt es sich aus, wenn keine gute Bewältigung gelingt?
  • Welche Funktionsstörungen können auftreten?
  • Wie kommen diese zustande?
  • Wie lassen sich eingetretene Verletzungen und Funktionsstörungen beheben (reparieren, heilen)?
  • Welche Umweltgegebenheiten (Außeneinflüsse) behindern und begünstigen das Wohlbefinden und die Leistungstüchtigkeit von Menschen?
  • Was ist unterschiedlichen menschlichen Vorstellungen (Glaubenssystemen, Theorien, Gesetzeslehren) von den Gegebenheiten und Abläufen im eigenen persönlichen Leben sowie in der Umwelt gemeinsam und welche Unterschiede lassen sich da feststellen? Welche Folgen (Vor- und Nachteile) hat es, wenn Menschen entsprechend diesen Vorstellungen handeln?
  • Was ist für Menschen unter welchen Bedingungen wertvoll/wertlos?
  • Welche Bedeutung und welchen Wert haben Symbole für Menschen?
  • Wie kommt deren Bedeutung zustande?
  • Wie gehen Menschen mit Symbolen um?
  • Was bedeutet Menschen das Symbol „Geld“ und welche Grundlagen gibt es für dessen „Wert“?
  • Was ergibt sich aus unterschiedlichen Konzepten zur Beziehung zwischen Freiheit, Vertrauen, Kontrolle und Gehorsam im menschlichen Zusammenleben?
  • Welche Bedeutung hat menschliches Selbst- und Umweltbewusstsein?
  • Wie lässt sich menschliches Handeln im Hinblick auf einzelne Ziele erfolgversprechend steuern?
  • Was geschieht, wenn innere Steuerungsprozesse (Gefühle, Kenntnisse, gedankliche Überlegungen, Gewohnheiten, Bedürfnisse, Wertorientierungen, Handlungsstrategien) und äußere Steuerungsmaßnahmen (Erziehung, soziale Regeln und Normen, Erwartungen anderer, Umweltgegebenheiten, staatliche Ordnungsmaßnahmen) aufeinander treffen und miteinander in Konflikte geraten?

Derartige Fragestellungen und die darauf inzwischen gefundenen Antworten sind von zentraler Bedeutung für alle Humanwissenschaften und damit auch für die weitere Entwicklung und Steuerung des gesamten Geschehens auf der Erde.

Noch bevor Psychologen und Soziologen mit experimentell-naturwissenschaftlichen Methoden sowie mit Computer-Simulationsverfahren diesen (Grundlagenforschungs-) Fragen nachgingen, hatten sich Schriftsteller, Philosophen und Regenten seit Jahrtausenden aus ihrer Perspektive heraus mit den gleichen Themen befasst. So hatte z.B. George Orwell in seinem Science-Fiction Roman „1984“ Big Brother als mit Gott vergleichbares Beobachtungs- und Kontrollorgan eingesetzt, während sich etwa zeitgleich Graham Greene als katholischer Schriftsteller in seinen Romanen mit Auswirkungen der Existenz Gottes auf die menschliche Selbststeuerung beschäftigte. Auf der Basis weitgehend gesicherter psychologischer und soziologischer Erkenntnisse begann der Club of Rome mit Computermodellen die zukünftige globale Entwicklung zugunsten einer lebenswerten und nachhaltigen Zukunft der Menschheit zu simulieren. Die Weltöffentlichkeit wurde auf den Club of Rome 1972 aufmerksam durch den viel diskutierten Bericht „Limits to Growth“ („Die Grenzen des Wachstums“).

Die heute verbreiteten Computerspiele, in die sich Jugendliche stundenlang versenken, sind zum Teil wertvolle Weiterentwicklungen dieser wissenschaftlichen Arbeiten und vermitteln Kenntnisse, Einsichten, Strategien und Methoden, die den zukünftigen Trägern unserer Gesellschaft schon sehr früh Kompetenzen vermitteln, die den Kompetenzen vieler gegenwärtiger gesellschaftlicher Entscheidungsträger weit überlegen sind. Auch etliche Lehrer haben Schwierigkeiten, mit ihren Schülern diesbezüglich mitzuhalten. - Roman Herzog hatte Optimismus und Zutrauen im Blick auf die Jugend ausgedrückt (vgl. 2.4.3). Hier lässt sich Berechtigung für seine Einschätzung der Jugend finden: Aufgrund von deren Kompetenzen und Einsichten in Systemzusammenhänge finden die heutigen Politiker und Unternehmensführer immer weniger Zustimmung und immer mehr gut begründetes Misstrauen. Wissenschaftlicher Sachverstand lässt sich nicht hinter’s Licht führen. Er erkennt, was Sache ist. Er durchschaut alles und findet angemessene Lösungen für alles.

Die erwähnte Forschung ist vor allem daraus ausgerichtet, festzustellen, was dem Menschen entspricht und gerecht wird, d. h. was seinem Wohl dient bzw. schadet. So wie die naturwissenschaftliche Forschung allen nicht-menschlichen Naturobjekten gegenüber eine möglichst objektive Haltung einnimmt, so geht die experimentell-psychologisch-sozialwissenschaftliche Forschung dem Menschen gegenüber genauso objektiv vor. Nachdem über weltweite diesbezügliche Forschungsaktivitäten hierzu das Wichtigste erkannt worden ist, besteht die noch zu leistende Aufgabe und Arbeit in der der bestmöglichen Umsetzung dieser Erkenntnisse in praktisches Tun und Handeln – so wie Roman Herzog 1997 gesagt hatte: „Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.“ IMGE wurde gegründet, um die Umsetzung zu fördern.